Meditation über eine Ikone: Die Flucht nach Ägypten

von Wolfgang Fleckenstein

Nur im Matthäusevangelium (Mt 2,13-15; 19-21) lesen wir etwas von der Flucht der Heiligen Familien nach Ägypten. Diese Episode aus dem Zyklus der Geschehnisse um die Geburt Jesu ist hineinverwoben in die Magiererzählung.

Mit dem Besuch der drei Sterndeuter, die zunächst den neugeborenen König der Juden im Palast des Königs Herodes vermuten, ahnen wir schon, dass von Seiten der Mächtigen für das Neugeborene nichts Gutes zu erwarten ist. Das Hauptinteresse vieler Mächtiger, das hat sich bis heute nicht verändert, ist der Machterhalt – mit allen denkbaren Mitteln. Nicht nur die Magier müssen ausweichen und auf einem anderen Weg heimkehren.
Das Ahnen der Gefahr wird durch den Traum des Engels ebenso für die Heilige Familie zur Gewissheit und zum Auftrag: „Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten...; denn Herodes will nach dem Kind suchen, um es zu töten.“ (Mt 2,13)

Die Sorge ist durchaus berechtigt, denn wenig später wird lapidar berichtet: Herodes „ließ in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben im Alter von zwei Jahren und darunter töten“ (Mt 2,16). Die Angst um Leib und Leben zwingt bis heute zur Flucht. Erst nach dem Tod des Herodes kann die Familie wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Zu dieser Flucht nach Ägypten gibt es eine Ikonendarstellung, die sich zu allererst auf diesen knappen Evangelientext des Matthäus bezieht, die ich an dieser Stelle entschlüsseln und meditieren möchte. Dies geschieht auf den Hintergrund der aktuellen Debatte um die Flüchtlinge, die nach Europa drängen. Diese Ikonenbetrachtung möchte helfen, unsere Orientierungen zu klären und zugleich Eigenverantwortung provozieren.

Die Einzelheiten auf dieser Ikone sind im Bezug auf das Evangelium nicht in allen Teilen schnell zu identifizieren. Lediglich drei beteiligte Personen sind klar: Die Gottesmutter, die auf einem Pferd sitzt, und Josef, der vorausgeht und den überraschend großgewachsenen Jesusknaben auf seiner Schulter trägt. Möglicherweise lässt sich die Palme im Hintergrund und das Wasser mit Fischen im Vordergrund mit dem Ziel Ägypten, hier als Nil angedeutet, in Beziehung setzen.

So ein Bild, zumal, wenn wir es vom Inhalt einigermaßen zuordnen können, wird schnell erfasst, eingeordnet – und dann nicht näher angeschaut. Ich habe dazu ein Kalenderdeckblatt mit demselben Motiv ausgewählt, das ein ägyptischer Künstler, Joseph Khahlil, für missio Aachen in koptischer Manier gestaltet hatte. Erst jetzt im Vergleich mit der oben gezeigten Motivvariation fällt einiges zusätzlich auf.

Schauen wir uns die Einzelheiten einmal etwas näher an.
Josef geht nun hinter der Mutter-Kind-Einheit, aus dem Pferd ist ein Esel geworden, Jesus liegt als Neugeborenes in den schützenden Armen seiner Mutter, eine Taube flattert vor dem Esel, eine Landschaft mit Häusern ist im Hintergrund zu sehen. Erst wenn das Bild ganz aufgedeckt wird, werden auch die Palmen über den aufstrebenden Säulen sichtbar und der Nil im Vordergrund lässt sich durch die Ikone vom Anfang nun auch identifizieren. Schließlich darf der Engel nicht vergessen werden, der ja im Evangelium des Matthäus eine wesentliche Rolle spielt. Im Übrigen ist diese Grundanordnung mit Esel, Mutter und Kind in schützender Nähe und dem hinterherlaufenden Josef die traditionelle Ikone der Flucht nach Ägypten.

Die Auswahl der Eingangsikone liegt darin begründet, dass es eine zeitgenössische „Interpretation“ der Flucht ist, die durchaus die Mittel der Ikonographie berücksichtigt und zugleich einen besonderen Aktualitätswert entfalten kann.
Es bleiben zunächst einzelne Dinge unklar: Da gibt es eine Figur, die hinter dem Pferd platziert ist. Was bedeuten die Dinge, die diese Person trägt? Warum gibt es noch einen Baum hinter diesem Mann? Warum trägt die Mutter Gottes in der Rechten ein weißes Tuch? Warum sitzt der Jesusknabe so eigenwillig auf den Schultern des Josef? Überhaupt ist das Gewand des Josef ganz besonders gestaltet.

Gehen wir in Leserichtung von links nach rechts vor. Der Mann hinter dem Pferd wird mit dem Hl. Jakobus, dem Stiefbruder des Josef, identifiziert. Diese Zuordnung geht auf das apokryphe Jakobusevangelium zurück, also ein Evangelium, das nicht in die Schriften des Neuen Testamentes aufgenommen wurde, aber wie auch andere apokryphe Schriften in der frühen Kirche und ganz besonders in der Ostkirche großes Ansehen genoss. In diesen Pseudo- Evangelien, wie sie auch noch genannt werden, findet sich auch eine weitere Szene, nämlich die Rast auf der Flucht, ein durchaus realistisch gesehenes Teil, wenn man an die Länge des
Fluchtweges denkt, dass dabei auch wenigstens kurze Erholungspausen und das Stillen des Kindes notwendig sind. Für diesen Anteil dürften die beiden Bäume stehen, da man in diesen Gegenden, sicherlich den Schutz der Bäume schon wegen der Hitze sucht. Es sind zwei sehr unterschiedliche Bäume, um zu zeigen, dass man aus einem Land in ein völlig fremdes Land – mit ganz anderer Vegetation – fliehen muss.

Doch kehren wir nochmals kurz zum Hl. Jakobus zurück. Er trägt über seiner linken Schulter, an einem Stab befestigt, ein kleines Proviantbündel und einen Wasserbehälter, die überlebenswichtigen Lebensmittel, mit sich. Es bleibt also nicht viel, was man auf die Flucht mitnehmen kann. Vieles muss als hinderlicher Ballast, sicherlich manches mit schwerem Herzen, zurückgelassen werden. In unseren Tagen schleppen Flüchtlinge das Überlebens-Notwendige in Rucksäcken oder Plastiktaschen – mehr bleibt ihnen nicht.

Jakobus führt in seiner Rechten eine Peitsch mit der er das Pferd antreibt, ein klares Signal für die Eile, die in der Regel das Grundmuster der Flucht ist. Die ganze Figur scheint sogar förmlich zu schweben, denn die Gefahr für die Flucht ist nicht gebannt, solange man sein Fluchtziel noch nicht erreicht hat. Eigentlich hat man die Füße ohne Bodenkontakt so nur in der Luft, wenn man rennt. Insgesamt zeigt sich diese eilige Unruhe, ebenso beim Pferd, dem ausschreitenden Josef oder dem zappeligen Jesusknaben. Und zugleich sieht man besonders an Jakobus, der sich ganz eng an das Pferd drängt, wie die ganze Fluchtgruppe möglichst nahe beieinanderbleibt. Die Sorge ist offenkundig zu spüren, sich unterwegs aus den Augen zu verlieren und voneinander getrennt zu werden.

Aber zumindest ist ein Hoffnungsstreifen schon zu erkennen, das zarte Grün zu Füßen der Flüchtlinge und das Wasser, das lebendige Wesen in sich trägt. Beides sind nur schmale Grade, die das bergende Ziel andeuten. Doch wie werden sie in der Fremde aufgenommen? Unsicherheiten bleiben.

Die Gottesmutter sitzt nicht auf einem Esel, sondern auf einem Pferd, einem, man muss es so tautologisch betonen, weißen Schimmel. Dieses Pferd strahlt formlich und unterstreicht beinahe wie ein Thron die Bedeutung der Gottesmutter, die in der Ostkirche ganz besonders verehrt wird. Sie ist die Himmelskönigin, das zeigt ihr blaues Untergewand und die drei Sterne auf ihrem
Gewand, an den Schultern und auf der Stirn. Diese Sterne stehen im Übrigen für die jungfräuliche Geburt. Letztendscheidend für die tiefe Verehrung der Gottesmutter aber ist ihr Ja, das Ja der ganzen Menschheit, zur Mutterschaft Jesu, des Gottessohnes. Dieses menschliche Ja wird durch das rot-braune Obergewand symbolisiert, Braun für die Farbe der Erde und Rot für die Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Als Zeichen für ihr entschiedenes Ja kann auch die Zügel in ihrer linken Hand gedeutet werden, die zeigt, dass sie das Heft des Geschehens in den Händen hält. Sie hat sich nicht einfach in ihr Schicksal ergeben, sie hat eine klare Entscheidung getroffen – für dieses Kind. Sie hat dieses Ja gesagt, obwohl sie schon geahnt hat, dass es keine leichte Angelegenheit wird. Ihre Ahnungen haben Ihr schon Recht gegeben. Sie musste schon eine ärmliche Geburt erleben und nun ist sie auch noch mit Ihrem Neugeborenen auf der Flucht. In der rechten Hand befindet sich das weiße Stilltuch, ein typisches Detail, das die menschliche Sicht in einer solchen Situation verdeutlicht. Ein gerade Neugeborenes muss gestillt werden und es spuckt dabei immer wieder etwas Milch aus, die es abzuwischen gilt. Sie hält es griffbereit, denn ihr Kind hat sich schon nach ihr umgedreht. Die Mutter Jesu strahlt dennoch in dieser schwierigen Lage eine gewisse Erhabenheit aus. Das Pferd als Reittier der Könige und die reich verzierte Satteldecke unterstreichen diese königliche Würde. Maria ist als einige auf dieser Ikone nicht in vorwärtsdrängender Bewegung, sie ist in ihrer ganzen Haltung der Ruhepol auf dieser Ikone.

Der Gruppe voraus läuft Josef mit ausladendem Schritt. Sein ganzes Gewand ist Ausdruck der Eile. Sein Alter ist durch graues Haar kenntlich gemacht. Sein Blick geht klar auf das Ziel gerichtet nach vorne und seine beiden Hände umklammern ein Bein des Jesusknaben. Diese Gestaltung erinnert an den Hl. Christophorus, den Christusträger.

Beinahe ist man versucht mit Blick auf Jesus zu sagen: So sind eben Kinder, sie spüren die Anspannung in der Situation und werden selber unruhig. Jesus sitzt etwas unsicher nur auf der einen Schulter des Josef. Er wendet sich zurück, seiner Mutter zu, eine durchaus nachvollziehbare kindliche Geste, das Schutz bei der Mutter sucht oder gestillt werden muss. Ich habe schon erwähnt, dass Jesus für ein Neugeborenes viel zu groß dargestellt ist, beinahe schon erwachsen wirkt. Die ist ein klares Zeichen, dass dieses Kind eigentlich nicht seinen Eltern gehört, sondern eine eigenständige Autorität von Anfang an hat. So kann es auch nicht wie andere Kinder ruhig auf beiden Schultern des Ziehvaters sitzen. Es bewegt sich ganz selbständig von Anfang an. Er begibt sich in die Hände der Menschen, aber er ist letztlich nicht wirklich von ihnen abhängig oder gar auf sie angewiesen. Die aufrechte Haltung und die Handgeste unterstreichen diese Unverfügbarkeit und Eigenständigkeit des Gottessohnes.

Die gesamte Ikone versucht etwas von dieser ungeheuren Spannung von Realität der Menschwerdung Gottes und der Realität von sorgenvoller Flucht auszudrücken. Das göttlich Unverfügbare steht neben der Lebensbedrohung. Zugleich ist das gesamte Geschehen der Flucht in das göttliche Licht des Goldes getaucht. Machen wir uns nochmals an dieser Stelle bewusst, dass wir hier eine Fluchtszene vor uns haben wird das Irreale dieses Hintergrundes erst so richtig bewusst. Dies ist jedoch die Grundbotschaft der Ikone überhaupt: Alles Geschehen auf dieser Erde geschieht im steten Horizont des Göttlichen. Oder einfacher ausgedrückt: „Wie tief wir auch fallen, wir fallen immer in die Hände Gottes.“ Er geht mit uns auch die schwersten Wege des Lebens mit, er lässt uns nie allein.

Diese Ikone hat eine Botschaft für uns heute. Wir sehen uns in unseren Tagen vielen Flüchtlingen gegenüber. Wir machen uns Sorge, dass soviel mehr Männer als Frauen zu uns als Flüchtlinge kommen. Auf der Ikone sind auch mehr Männer zu sehen, und Josef geht der Flüchtlingsgruppe voran. Ist es nicht verständlich, dass die Männer, auch zum Schutz der Frauen, vorausgehen, schauen, ob es zu schaffen ist? Die Kinder bleiben normalerweise bei ihrer Mutter. Heute schicken die Eltern in ihrer Verzweiflung schon Minderjährige auf die Flucht. Erinnern wir uns dabei daran, dass auch Jesus schon als Kind fliehen musste?
Haben wir noch im Ohr, dass beim Endgericht der Menschensohn sagt: „Kommt, ihr Gesegneten... ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,34f).
Wir können also in jedem Flüchtenden, dem wir uns zuwenden auch heute Christus nahekommen. Diese Ikone ist also nicht einfach ein schönes Bild. Sie ist eine Erinnerung, eine Botschaft, zumindest eine Frage: Wie werden wir Christus bei uns empfangen, was werden wir mit ihm teilen – oder werden wir ihn abschieben?

Wolfgang Fleckenstein


 
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